Ida (Jitte) und Max (Meschulim) Kaufmann wurden Ende des 19. Jahrhunderts im damaligen österreichischen Galizien (Österreich-Ungarn, 1919 Polen, 1939 Sowjetunion, heute Westukraine) geboren. In der Zeit breiteten sich zunächst in Russland, dann auch in den polnischen Gebieten Judenpogrome aus und führten zu einer Vielzahl jüdischer Auswanderungen nach Westeuropa. Ida und Max sind 1911 in Hamborn (heute Duisburg) nachgewiesen. Max führte dort mit seinen Brüdern Chaim und Menasse ab 1914 eine Kurz-, Weiß-, Woll-, Zigarren- und Zigarettenhandlung. Vermutlich im August 1914 zogen sie mit weiteren Familienangehörigen, so auch den Eltern von Ida (Bezalel und Chaja Haber), nach Gladbeck und wohnten zunächst im Haus auf dem damaligen Eckgrundstück Rentforter Straße 14/Barbarastraße 4. 1924 erwarb Max von Hermann Schmitten das Haus Horster Straße 54 (früher Kaiserstraße), vormals eine Apotheke. Zur Begleichung des Kaufpreises leistete er eine Anzahlung, für den Restbetrag vereinbarte er teils eine Ratenzahlung, teils eine Stundung und nahm somit Hypotheken auf. Max zog mit seiner Familie 1924 im Haus ein. Ida und Max hatten acht Kinder: Samuel, Sara, Leo Arje, die Zwillingstöchter Peril und Mirjam, Charlotte, Esther Riwki und Selma. (Stammbaum)
Ida und Max Kaufmann (vorne sitzend mit Enkel Siegmund) im Kreis ihrer Kinder, 1936 (hinten: Schwiegersohn Samuel Chohen und Sara, Samuel, Erna, Selma, Leo und Charlotte Kaufmann). (Foto: Familie Kaufmann)
Im Parterre des Hauses eröffnete Max ein Geschäft für Manufaktur-, Kurz- und Wollwaren. Bereits 1927 leitete das Amtsgericht ein Konkursverfahren ein, da Max seine Zahlungen eingestellt hatte. In der Folgezeit wurden mehrere Zwangsversteigerungen angeordnet. Eine Hypothek auf das Haus übernahm 1928 Fanny Meyer, geb. Rosenthal, Witwe von Levy genannt Louis Meyer, Inhaberin der Firma M. Rothmann & Co. in Gelsenkirchen. Der Kontakt kam über Samuel, den Sohn von Ida und Max zustande, der zu dieser Zeit eine Lehre bei der Firma Rothmann & Co. absolvierte. Neue Eigentümerin des Hauses wurde die Mutter von Ida, Chaja Haber, geborene Plesser. Nach einer weiteren Zwangsversteigerung aufgrund von Steuerrückständen erwarb Fanny Meyer 1934 auch das Haus und vermietete es an Max Kaufmann. Weitere Zwangsversteigerungen wurden 1935 und 1938 angeordnet. Max konnte sein Geschäft bis 1938 weiterführen.
Max und Ida Kaufmann (Bildmitte, links und rechts neben der Kasse) mit Familienangehörigen und Angstellten in ihrem Geschäft, ca. 1926. (Foto: Familie Kaufmann)
Von den zunehmenden Boykott- und Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten war auch die Familie Kaufmann betroffen. Bereits im Januar 1934 kamen fast täglich Briefe ins Haus, in denen nacheinander allen Familienangehörigen die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit mitgeteilt wurde. Trauriger Höhepunkt waren die Verhaftungen der Bewohner und die Zerstörung und Plünderung der Wohnungs- und Geschäftseinrichtungen während des Novemberpogroms 9./10. November 1938. Der Zeuge Isidor Kahn berichtete am 28.5.1955 über die Geschehnisse (Stadtarchiv Gladbeck, 1-500, 446): "Es war am 9. November 1938 gegen 5.00 Uhr morgens, als die Familie Kaufmann damals in Gladbeck, Kaiser Straße 54 wohnhaft, den NS-Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer fiel. Damals in der `Kristallnacht´ wurden die Eheleute Kaufmann nebst den Töchtern von der SA verhaftet und in Schutzhaft genommen. Mitverhaftet wurden Familienangehörige, die sich gerade im Hause aufhielten, u.a. Ottmann und Cohn. Die Frau Kaufmann wurde mittags wieder aus der Haft entlassen. Besondere Verfolgungsmaßnahmen gegen Einzelmitglieder des Hauses sind nicht erfolgt, sondern nur die Maßnahmen gegen die Familie Kaufmann im allgemeinen. [...] Die letzte Nachricht von der Familie Kaufmann habe ich kurz vor Ausbruch des Krieges in Form eines Briefes erhalten."
Nacheinander konnten Max, Ida und die Kinder Sara, Charlotte und Leo nach Amsterdam in die Niederlande fliehen und im jüdischen Viertel Unterkunft finden. Samuel und Selma waren bereits 1936 nach Palästina ausgewandert. Esther Riwki wurde mit ihrem Mann und der Tochter Betty im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. In Amsterdam wähnten sie sich in Sicherheit. Doch nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 waren sie auch hier den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten ausgesetzt. Das Flüchtlingslager Westerbork richteten diese als Durchgangslager ein. Von dort erfolgten die Deportationen von über 100.000 Juden, Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager im besetzten Osten. Ida Kaufmann wurde nach ihrer Verhaftung 1943 von Westerbork aus in das Ghetto Theresienstadt gebracht. Das weitere Schicksal ist nicht genau bekannt. Sie wurde mit dem Todeszeitpunkt 31.12.1945 für tot erklärt. Ihr Mann Max war bereits 1942 in Amsterdam an einem Herzinfarkt verstorben. Sara und ihr Sohn Siegmund, Charlotte und Esther Riwki überlebten den nationalsozialistischen Terror nicht. Und die, die überlebt hatten, litten unter den Folgen.
Über die Geschichte der Familie und ihre Erfahrungen führte Frau Barbara Keimer ein Interview mit Frau Chaja Kaufmann, Enkelin von Max Kaufmann. Die Videos, erstellt von Herrn Gerd Kuhlke, sind abrufbar unter folgenden Links: Teil 1, Teil 2.
Der jüdische Betsaal
Nur wenige Juden lebten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Gladbeck. Sie besuchten zunächst die Synagogen in Dorsten und Essen. Bis 1914 war die Anzahl entsprechend dem allgemeinen Bevölkerungszuwachs im Zuge des Bergbaubeginns gestiegen. 1916 wohnten bereits 30 jüdische Männer in Gladbeck, die in der Synagogengemeinde wahlberechtigt waren. Bis 1928 stieg die Anzahl der jüdischen Bevölkerung auf 263. Anfang 1914 strebte die Gemeinde den Bau einer Synagoge an und kaufte ein Grundstück im Ortskern. Die Umsetzung der Planungen wurde jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert. Mitte der 1920er Jahre mietete die Gemeinde einen Raum im Parterre des Kaufmann-Hauses an. Ida und Max hatten den Raum eingerichtet und auch zwei Thorarollen zur Verfügung gestellt. Dieser Betsaal, hinter dem Geschäftslokal zum Garten hin gelegen, wurde von den mittlerweile mehrheitlich ostjüdischen Einwohnern genutzt.
Familie Kaufmann vor dem Wohn- und Geschäftshaus Horster Straße 54, in dem sich der Betsaal befand, um 1924. (Foto: Familie Kaufmann)
1935 untersagte die Stadt die weitere Nutzung der Lutherschule für den Religionsunterricht der Synagogengemeinde. Der Vorsteher der Repräsentanten Sally Daniel sollte eine andere Räumlichkeit suchen. Als Ersatz mietete die Gemeinde einen weiteren Raum im Haus Horster Straße 54 an. Den Betsaal musste sie jedoch zum 31.12.1935 kündigen, weil die Miete nicht meh aufgebracht werden konnte. Die Gemeinde beschloss die Aufnahme von Verhandlungen mit Fanny Meyer aus Gelsenkirchen, seit 1934 Eigentümerin des Hauses, damit Kaufmann die Wohnung erhalten werden konnte. Vermutlich erkannte die ebenfalls jüdische Frau Meyer die Bedeutung des Betsaals für die Gladbecker Juden, sodass dieser weiterhin bestehen bleiben konnte. Während des Novemberpogroms 1938 wurde er wie auch die Wohnungen geplündert und zerstört. Im März 1939 mussten die Erben von Fanny Meyer das Haus unter Wert verkaufen. Unter Vermittlung eines Immobilienmaklers erwarb es die Stadt Gladbeck.Kurze Zeit später eröffnete darin die NSDAP Ortsgruppe Gladbeck-Mitte ihre Geschäftsstelle und richtete außerdem einen Luftschutz- und einen Schulungsraum ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eröffnete Isidor Kahn hier ein Herren- und Konfektionsgeschäft. Isidor Kahn hatte in Verstecken innerhalb und außerhalb Gladbecks die Verfolgung überlebt. Heute ist das Haus im Besitz der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und beherbergt eine Beratungsstelle und betreutes Wohnen für Menschen mit psychischen und/oder Suchterkrankungen. Auf Anregung der AWO, an die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erinnern, wurde in Kooperation von der AWO, der Enkelin von Max Kaufmann, Frau Chaja Kaufmann als Vertreterin der Familie und der Stadt Gladbeck ein Gedenkkonzept erarbeitet. Seit dem 9. November 2018 trägt das Haus zur mahnenden Erinnerung den Namen "Ida und Max Kaufmann-Haus". Zudem wurde es in das Projekt "Historische Orte in Gladbeck" aufgenommen. Die Gedenkveranstaltung am 9. November 2018 wurde von Frau Keimer und Herrn Kuhlke in zwei Teilen dokumentiert. Die Videos finden Sie hier: Teil 1 (https://vimeo.com/300264104), Teil 2 (https://vimeo.com/300695159).
Katrin Bürgel
Quellen: - Stadtarchiv Gladbeck: 1-500 Wiedergutmachungen, Hausstandsbücher, Einwohnermeldekarten, Personenstandsunterlagen, Bauakte Horster Straße 54; - Amtsgericht Gladbeck: Grundbuch und Grundakte Horster Straße 54;
- Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden, (https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/); - Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen: Einwohnermeldekarten; - ITS Digital Archive, Bad Arolsen: Teilbestand 1.2.5.1: Gemeindelisten über jüdische Residenten; Teilbestand 3.1.1.1: Nachkriegszeitkartei; Teilbestand 6.3.3.2: Korrespondenzakten; Teilbestand 1.1.46.7: Transportlisten Westerbork; Teilbestand 1.2.2.1: Liste der ausgewiesenen Juden in Zbaszyn; Teilbestand 1.2.4.2: Holland Kriegskartei der Juden/Sammellager Westerbork; Teilbestand 1.2.1.1: Transportlisten Gestapo; - Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen: K201/Bezirksregierung Münster; K204/Bezirksregierung Münster, Wiedergutmachungen; L 001a/Oberfinanzdirektion Münster, Devisenstelle; Q 115a/Landgericht Münster, Wiedergutmachungen; - Stadtarchiv Amsterdam: Wohnkarten (https://archief.amsterdam/indexen/woningkaarten_1924-1989/zoek/index.nl.html); - Stadtarchiv Duisburg: Gewerbekartei, Adressbücher 1912 und 1914; - Standesamt Duisburg: Auskunft aus den Geburtsregistern;
- Fotos: Privatbesitz Familie Kaufmann
Literatur: - Frank Bajohr: Verdrängte Jahre. Gladbeck unterm Hakenkreuz. Essen 21990. - Elfi Pracht-Jörns: Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Teil IV: Regierungsbezirk Münster. Köln 2002. (Gladbeck: S. 296-300). - Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden. Duisburg 1986. - Rainer Weichelt: Gladbeck. - In: Susanne Freund, Franz-Josef Jakobi, Peter Johanek (Hrsg.): Historisches Handbuch der Jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster. (Quellen und Forschungen zur jüdischen Geschichte in Westfalen, Bd.2), Münster 2008, S. 363-373. - Rainer Weichelt: Juden in Gladbeck 1812-1933: Leben im Verstädterungsprozess einer Bergbaugemeinde im nördlichen Ruhrgebiet. - In: Jan-Pieter Barbian, Michael Brocke, Ludger Heid (Hrsg.): Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart. Essen 1999, S. 355-384.